Dienstag, 2. Juli 2013

Vorsicht! Retrodesign...

Es ist wie ein Zucken im Hirnstamm - so ein leichtes Nervenflattern, das aus den stammesgeschichtlich dunkelsten Tiefen des Unterbewussten an die Oberfläche ploppt und dort als unspezifische Warnmeldung Verwirrung stiftet. Als wäre man versehentlich über ein virtuelles Dialogfeld gefahren und plötzlich zeigt sich ein blinkendes Pop Up mit chinesischen Schriftzeichen, das sich nicht mehr schließen lässt. Ich spreche von dieser Irritation, die sich einstellt, wenn man eine alltägliche Szenerie betrachtet und sofort das Gefühl hat, dass etwas grundsätzlich falsch ist. Man kommt aber einfach nicht darauf, was es ist.

Dieses Gefühl hatte ich kürzlich bei meinem lieben Vater. Ich war zu Besuch, hatte dort auf einem vollautomatischen Aufblasbett übernachtet und nun, am nächsten Morgen, tischte man üppiges Frühstück auf. Duftende Roggenbrötchen häuften sich über knusprigen Schrippen und hier und da ragten ein paar absurd große Croissants aus dem Gebäckhaufen. Lecker. Es gab einen Wurstteller und eine Käseplatte, beides liebevoll mit Mini-Tomaten, Gurkenscheiben und Petersilie dekoriert. Soweit unauffällig. Ich habe mich aber über die Jahre in meinen Frühstücksgewohnheiten meinem Mann angepasst und bin voll auf süß getaktet. Mit dieser Vorliebe bin ich an besagtem Morgen vollkommen alleine, aber mein Vater hat das Unmögliche möglich gemacht und mir Honig (bäh!) und Johannisbeergelee (naja) aus dem Hause "Bonne Maman" an den Platz gestellt. Und irgendwo hier poppte die irritierende Meldung auf, das irgendwas komisch ist.

Ich bestelle einen doppelten Kaffee und setze mich. Meine Augen wandern über den Tisch, zum Fenster, inspizieren die Uh und die Zeitungsschlagzeilen auf der Suche nach dem Grund für den Alarm. "File not found". Alles klar. War wahrscheinlich noch nicht richtig wach. Das eigentliche Frühstück beginnt. Wir unterhalten uns, ich zerteile ein Roggenbrötchen, streiche Margarine darauf und greife nach dem Johannisbeergeleetöpfchen. Plopp! Achtung!! Hä? Was ist denn los? Ich beginne, mit meinem Alarmzentrum zu diskutieren:

Ich: "Ja. Stimmt. Das Design der Marmelade ist echt unterirdisch. Aber nicht gefährlich."
Unterbewusstsein: "DOOOOOOHOCH!"
Ich: "Nein. Ist es nicht."
Unterbewusstsein: "Ist es doch. Du musst einfach mal genau hingucken."
Ich: "Oh Mann! Gut. Ich gebe zu: eine aufgedruckte rot-weiß-karierte Decke auf dem Deckel ist voll oll. Irgendwie 20. Jahrhundert. Aber nicht gefährlich."
Unterbewusstsein: "Überleg doch mal: 20. Jahrhundert...! Das ist doch voll gefährlich."
Ich: "Nee. Nicht gefährlich. Retro. Das macht man bei solchen Sachen. Damit man das Gefühl bekommt, kein Massenprodukt zu essen, sondern einen kleinen Teil einer von einer kleinen, gemütlichen provencalischen Oma liebevoll selbstgekochten Marmelade ergattert zu haben. Das Design vermittelt LIEBE."
Unterbewusstsein: "Das Design ist nicht Retro. Das ist scheiße."
Hmpf. Wo es Recht hat, hat es Recht. Ich denke nach. Johannisbeergelee - wieso eigentlich so'n popeliges Töpfchen. Und wieso Gelee? Das ist nach "Samt-Konfitüren" und edlen Fruchtaufstrichen ohne Konservierungsstoffe aus der Kühltheke sowas von out... Da fällt mir ein, dass ich in den Supermärkten eigentlich schon lange kein Gelee mehr gesehen habe.
Unterbewusstsein: "SIEHSTE."
Ich: "Schnauze. Ich muss nachdenken."

Ich habe das Gefühl der Lösung schon ganz nahe zu sein. Johannisbeergelee... Ich nehme das Gläschen in die Hand. 75 Gramm ist auch eine ungewöhnliche Größe. Komisch. Ich schraube den Deckel auf. Plopp. Auf dem Gelee hat sich eine winzige Pfütze gebildet. Komisch. Das Etikett sieht auch doof aus. Also ALT. Nicht retro, sondern alt. Ich drehe das Glas in den Händen und lese: Mindestens haltbar bis: siehe Bodenprägung.

Unterbewusstsein: "Trommelwirbel!"

Ich: "Halt die Klappe!"

Bodenprägung: "08/1993"

Liebes Unterbewusstsein, du hattest so Recht. Es tut mir leid. Alles.

ÄCHT

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